Donnerstag, 5. Juli 2012

Ein paar offene Worte.


Gestern ist etwas sehr Seltsames passiert. Ich bin es gewohnt, bei Twitter auch mal beschimpft zu werden, als Schlampe oder auch das F-Wort, Kapitalistenkuh war auch mal dabei - das macht mir relativ wenig aus. Ich finde zwar, dass dies nicht Bestandteil einer guten und respektvollen Kommunikation sein sollte, aber es soll ja auch Menschen geben, die Cola in ihr Bier kippen. Leben, leben lassen.

Gestern hat ein Mensch andere nicht Leben lassen. Fünf Tote. In Karlsruhe. Meine Tochter im Sperrgebiet, im Klassenzimmer verschanzt, keiner wusste, was los ist. Ich hatte keine Angst um sie, aber ich hatte Sorge. Die ganze Stadt hielt den Atem an. Dann ging der Zähler nach oben. Ein Toter, ein zweiter, ein dritter, ein vierter. Und plötzlich noch eine tote Frau. Der vermutliche Täter hat sich offenbar selbst getötet und zuvor unschuldige Menschen, die ihren - sicherlich nicht leichten - Job machen wollten, getötet. Der Schlosser, der am selben Tag noch Vater werden sollte, wie mir ein Bekannter gestern Abend noch erzählte. Seine Frau liegt auf der Entbindungsstation. Wurde dieses Kind am Tag geboren, an dem sein Vater kaltblütig ermordet wurde? In mir stiegen Wut und Übelkeit hoch.

In Wiesloch, nicht weit von Karlsruhe entfernt, wurde zur gleichen Zeit ein Mann von einem Polizisten erschossen, nachdem er Frauen angegriffen hatte und bewaffnet auf die Polizei losging.

Der kleine Sebastian auf Amrum gefunden. Tot. Beim Spielen.

Ich war erschüttert. Traurig. Nachdenklich. Ja, täglich sterben mehr Menschen durch Krankheit, durch Hunger, durch Krieg. Ich weiß es. Meine Aufmerksamkeit für die Tragik des Tages war sicherlich auch mediengesteuert, wenn man meine Tochter mal außen vorlässt. Die Dramaturgie der einzelnen Geschichten, der kleinen Lebens- oder leider treffender Todesepisoden, die gestern an vielen verschiedenen Orten in Deutschland stattfanden, hat mich aus der Bahn geworfen. Eigentlich sollte es ein schöner Tag werden, ich hatte eine Verabredung, auf die ich mich schon lange gefreut hatte, es war ein toller, warmer Tag, ich habe bald Urlaub, alles läuft gut. Dass mir abends nicht mehr nach Freude und "Juchee" zu Mute war, kann sicher der ein oder andere nachvollziehen.

Was ist dann passiert? 

Auf einen meiner Kommentare zur gestrigen Geiselnahme schrieb @MicPliester:
"@ellyteration Menschen zu morden hat viele Gesichter: die Justiz kennt sie alle. Ich zolle dem Mann Respekt.

Man muss sich diesen Satz mal genauer anschauen. "Ich zolle dem Mann Respekt." Nein, man muss sich den Satz nicht näher anschauen. Er steht für sich. Und auch jetzt wieder, wenn ich ihn schreibe, kommt mir das kalte Würgen. Obwohl ich ja eher nicht zu solchen Reaktionen neige. Was habe ich getan? Ich habe meine Follower darauf aufmerksam gemacht und sie gebeten, nein "aufgerufen", ihn zu blocken, damit er seinen menschenverachtenden Unfug nicht noch weiter verbreiten kann. Ja, das habe ich getan. Mir wurde daraufhin aus der Twitterergruppe (ich vermeide mal das Wort Gemeinschaft, aber nur für den Moment) vorgeworfen, ich würde meine "Machtposition" (?, was ist das?) auf Twitter ausnutzen, um gegen einzelne Menschen zu HETZEN. Meine Gefühle sind dann dezent übergeschäumt, ich habe geschwankt zwischen Wut und Weinen, zwischen Erstarren und Entsetzen.

Dazu kam - wichtiger kleiner Nebenstrang - dass ich eine zweigeteilte Antwort, deren erster Teil eine Mention mit @ellyteration und der zweite Teil eine Mention ohne @ellyteration falsch verstand. Der erste Tweet endete mit "Die". Ich verstand es - im Überschwang des Momentes als an mich gerichteten Imperativ. Ich habe erst mal nur auf mein Display gestarrt und war völlig baff. Und warf dem Schreibenden vor, dass er mir den Tod wünscht. Ich möchte mich dafür in aller Form entschuldigen, ich habe den zweiten Tweet nicht gesehen, deshalb nicht erkannt, dass "Die" der einleitende Artikel für einen neuen Satz war. Es tut mir leid, @Hoerns. Wirklich! Danke an @EinerVonAllen für den Hinweis!

Was mir nicht leid tut, ist, dass ich dazu "aufgerufen" habe, den menschenverachtenden Unfug, der vorher geschrieben wurde, zu unterbinden. Es mag für manche sein, ich habe überreagiert. Aber das mache ich lieber einmal zu oft, als im entscheidenden Moment einmal zu wenig. Wer einem Täter Respekt zollt, der andere Menschen hingerichtet hat, wer schreibt, dass er Kinderpornographie gut findet, wer applaudiert, wenn ein Asylantenheim brennt, wer dazu aufruft, Menschen zu verachten, weil Sie anders sind, wer Menschen wehtut, Grenzen überschreitet, wer verletzt, weil er ignorant und egoistisch unmenschlich ist, der darf seine Meinung nicht verbreiten. Meinungsfreiheit hat dort seine Grenzen, wo sie gegen die Menschlichkeit verstößt. Vielleicht täten wir gut daran, öfter mal solche Aussagen im Keim zu ersticken. Wir wissen, wohin unkommentierte, geduldete Propaganda führen kann. Und das meine ich nicht mal im großen, geschichtlichen Kontext. Nehmt die alltägliche Schikane an Menschen, nehmt Pöbeleien, nehmt Mobbing. Es war für mich keine Hetze, die ich betrieben habe. Es war ein Aufruf dazu, gemeinschaftlich Unmenschlichkeit im Keim zu ersticken. 

So einfach ist das für mich ...